Auf der Liste geschichtsträchtiger Konzert-Locations in Deutschland würde eine ganz oben stehen: Das Matrix in Bochum. Anfang des 19.Jahrhunderts als Stammhaus der Müser Brauerei errichtet, prägt der imposante Bau seit nunmehr zwei Jahrhunderten das Stadtbild von Bochum-Langendreer. In den 1970er Jahren wurden die Sudkessel stillgelegt, das gärende Gewerbe von der Gastronomie abgelöst. Damals übernahmen die Rebellen die Macht, mutierte das Brauhaus zum Rockpalast. Heute finden hier in vier Areas die Anhänger vieler Musikrichtungen ein Zuhause, treten international erfolgreiche Acts wie Gotthard und Europe auf. Am 4. Juni ließen sich die US-Amerikaner von Mr. Big im extravaganten Ambiente feiern.
Ein Hochhaus im Stil der Gotham-City Architektur mit einem Labyrinth aus Korridoren, Aufgängen und Hallen. Verwinkelt, bizarr, anders. Kellertreppen führen in Katakomben, verlieren sich in blutrotem Licht, teuflische Gestalten beäugen das Geschehen. Höllisch auch die Temperaturen im Zentrum des Getümmels: Eine Herausforderung für jeden Tontechniker, der sein Werk unter schwierigsten Bedingungen verrichten muss. Deshalb gleich zu Anfang ein Kompliment an die Klangexperten, die diese Aufgabe mit Bravour lösten!
Special Guest und musikalisches Multitalent Andy Brings hat als Mitglied der Ruhrpott-Legende Sodom deutsche Thrash Metal-Geschichte geschrieben. Nach drei Jahren Höhenflug folgte der Rausschmiss, doch Brings überwindet die Schlappe und meldet sich 1997 als hyperagiler Frontmann der Glamrocker The Traceelords zurück. 2010 erfindet er sich noch einmal neu, veröffentlicht mit Rock’n’Roll sein erstes Soloalbum. Ruhig und gereift präsentiert er sich heute, beherrscht die Bühne mit seiner akustischen Gitarre. Die Liedtexte deutsch, die Musik eine bunte Mischung aus Elektro-Pop und Rock, von leichtfüßig punkig bis melodisch verträumt. Mal voller Energie, mal nachdenklich und leise. Mit Wildes Mädchen endet ein Auftritt, der nicht nur dem weiblichen Teil des Publikums sichtlichen Spaß bereitet hat.
Fetzig legen die vier Musiker von Mr. Big mit
Undertow, einem Stück aus ihrem aktuellen Album What If…
los. Sänger Eric Martin zeigt sich trotz Gipsarm beweglich und munter –
die Stimme so ausdrucksstark und kraftvoll wie eh und je. Überhaupt
scheint die Zeit dem 50jährigen kaum etwas anzuhaben, sein blendendes
Aussehen nicht ankratzen zu wollen. Zwanzig Jahre ist es her, dass er
mit dem Gassenhauer To Be With You das Publikum verzauberte,
sein Charisma und die Intensität seiner Darbietung wirken bis heute.
Derweil verteidigen Gitarrengott Paul Gilbert und Bassderwisch Billy
Sheehan vehement ihren Status als Ausnahmemusiker. Schon der zweite
Titel American Beauty bereitet das Terrain für ein explosives
Saitenduell. Price You Gotta Pay bringt die bluesige Seite der
Musiker zum Klingen und ermöglicht Schlagzeuger und Background-Sänger
Pat Torpey seine Handwerkskunst zu zeigen. Gilbert liefert sein so
unvermeidliches wie astreines Gitarrensolo – die zu solchen
Gelegenheiten oftmals aufkommende Langeweile weiß er durch
Vielschichtigkeit geschickt zu umschiffen. Ganz anders Sheehans
ausgedehnte Basseskapaden, die gegen Ende des Sets für Ermüdung sorgen.
Im ersten Zugabenblock darf der Megahit To Be With You
natürlich nicht fehlen. Und Ballade hin, Schmachtfetzen her: Die
Stimmung erreicht ihren Höhepunkt. Der Gesang der Fans verbindet sich im
lautstarken Refrain, fordert eine Verlängerung des Stückes. Die Band
fügt sich und setzt eine Jamsequenz nach. Etwas überraschend folgt mit
Shy Boy ein Song aus Sheehans Talas-Ära am Ende der
Vorstellung.
Bodenständig und schnell, kernig und ehrlich – keine Frage: Mr. Big
bieten nach ihrer Reunion wieder melodischen Hardrock at its best.
Sympathisch und offen präsentieren sich die Amerikaner ihren Fans auch
nach der Show noch am Tourbus – als Spitzenmusiker ohne Standesdünkel,
als Rocker ohne Allüren. Bleibt also ein durchweg positives Resümee des
Abends. Und das Gefühl, Musikkultur auf höchstem Niveau erlebt zu haben.
In Zeiten von Castingwahn und Quotenstars fordern wir mehr davon!